Reise ins „aTOM“

Unsere Erfahrung bei der Einführung einer agilen Organisation
Reise ins „aTOM“ - Unsere Erfahrung bei der Einführung einer agilen Organisation

von Dr. Ralf Helbig

Ist es zeitgemäss und adäquat, Mitarbeiterziele in Jahres-Perioden zu vereinbaren in einer Zeit, in der Innovationen, Trends und Technologien uns den Takt vorgeben? Oder hilft es uns als Unternehmen nicht viel mehr, wenn wir in kürzeren Zyklen planen und uns die Flexibilität lassen, auf veränderte Rahmenbedingungen aus Markt-, Kunden-, Wirtschafts- und Mitarbeiterperspektiven zu reagieren? Wir haben letztes Jahr einen Wechsel in der Geschäftsführung zur Gelegenheit genommen, uns gemeinsam grundlegend Gedanken zu machen, wie wir ab 2020 zusammenarbeiten und unsere Kapazitäten sowie Ressourcen bestmöglich nutzen, um unser höchstes gemeinsames Ziel zu erreichen – unsere Organisation erfolgreich weiterzuentwickeln. Dabei wollten wir weg vom „Silo-Denken“ und gezielt die Menschen in unserem Unternehmen zusammenbringen, die – ungeachtet der organisatorischen Zugehörigkeit – gemeinsam einen Mehrwert für die Markt- und Kundenausrichtung schaffen, unsere Organisation z. B. durch interne Initiativen voran bringen. Ausserdem war eine weitere Motivation, jungen Mitarbeitern mehr Gestaltungsfreiraum und Verantwortung zu übertragen und ihnen, neben unseren etablierten Karrierepfaden, neue Perspektiven zu bieten. Ganz nach unserer Vision „Unser Herz schlägt digital. Wir gestalten die Zukunft unserer Kunden. Wir geben Talenten ein Zuhause.“

Practice what you preach

Aus dieser Ausgangssituation im letzten Spätsommer haben wir uns entschlossen, selbst das anzugehen, was wir als Beratung unseren Kunden raten und die agilen Prinzipien auf unsere Organisation anzuwenden – ganz nach dem Motto „Practice what you preach“.

Mangels verfügbarer geeigneter digitaler Tools haben wir initial physisch einen Epic Room eingerichtet. Basis dafür war ein grosser Workshop, in dem alle Mitarbeiter ihre Themen, die dringend angegangen werden müssten, um die Detecon (Schweiz) AG erfolgreicher zu machen, ausdrücken konnten. Diese gesammelten Inputs wurden im Anschluss geclustert und auf Flipcharts strukturiert im Epic-Room ausgestellt. Jeder Mitarbeiter konnte auch im Nachhinein Themen ergänzen und erhielt schliesslich drei Voting-Klebepunkte, die er auf die verschiedenen Themen verteilen konnte. Aus diesem Dot-Voting wurde eine Shortlist an priorisierten Themen gebildet. Als Tool-Unterbau kam uns die bereits laufende Einführung von Office 365 und MS Teams zu Gute. Dort konnten wir im MS Planner schliesslich den Epic Room digitalisieren. Wir merkten schnell, dass der aktive Einbezug aller Mitarbeiter in die Unternehmensentwicklung sehr wichtig ist. Daher fragten wir in einer Mitarbeiterumfrage ab, wie sie sich unser Zusammenwirken in einer agilen Aufstellung vorstellen. Auf dieser Basis haben wir als Management in Workshops und in Streams zusammen mit Mitarbeitern unser agiles Organisationsmodell („aTOM“) erarbeitet. Dabei wurden wir von Beginn an von unseren hauseigenen Agile Coaches begleitet. Parallel definierten wir unser Produktportfolio neu, um unsere Aktivitäten zukünftig konsequent daran auszurichten.

Was hier rückblickend recht schnell und einfach geschildert ist, war ein sehr intensiver Prozess, in dem nicht immer uneingeschränkter Enthusiasmus im Management und im gesamten Team herrschte! Bis zu unserem vereinbarten Go-Live am 01. Januar 2020 wurde sehr viel geplant, diskutiert, verworfen und angepasst. Es gab durchaus Stimmen, die den Stand unseres Operating Models noch nicht als reif genug ansahen, um es umzusetzen – ein Fakt, der sicher auch dem Umstand geschuldet war, dass wir diese organisatorische Mammut-Aufgabe nicht in einer dedizierten Strategie-Abteilung, sondern mit volatil freien Kapazitäten angehen. Aber wir wären ja keine Beratung, wenn wir uns vor grossen Aufgaben scheuen würden und so blieb es beim offiziellen Go-Live zum neuen Jahr und der Planung unseres ersten Summits am 31. Januar. Dieses Summit sollte den Startschuss der „Iteration 0“ darstellen und markierte nach viel Theorie und Planung unseren „Sprung ins kalte Wasser der Agilität“. Dass wir dabei nicht „untergegangen“ sind, verdanken wir unseren Experten in agilen Themenstellungen, die als Agile Agents die sehr intensive Vorbereitung des Summits übernommen haben und seitdem zusammen mit dem Management und dem gesamten Team daran arbeiten, dass agile Prinzipien und der notwendige Mindset bei uns Einzug halten – nicht immer eine leichte Aufgabe! Dieser Change ist nicht zu unterschätzen, werden ja elementare Prinzipien der Organisation hinterfragt und ggf. auch geändert. Themen wie Kontrollverlust, das Überholen von Entscheidungsprinzipien, neue Prioritätensetzung und nicht zuletzt die neue Ausgestaltung von Führungsrollen spielen hier hinein.

Im Summit wird es ernst

So sind wir voller Erwartungen, aber auch mit einigen Unsicherheiten Ende Januar in unser erstes ganztägiges Summit gestartet – immer vor Augen, dass wir nicht mit einer fertigen Lösung starten, sondern uns am Anfang einer Reise befinden. Neben der Schaffung des gemeinsamen Mindsets war ein wichtiger Agendapunkt die Definition des agilen Prozesses. Wir haben uns vorgenommen, jeweils dreimonatige Iterationen zu durchlaufen, in denen wir unsere vorher definierten Epics jeweils bis zum Ende einer Iteration zum Ende bringen. Dafür haben wir im Vorgang Backlogitems aus unseren im Epic Room gesammelten Prioritäten definiert und im Management anhand unseres Produktportfolios priorisiert. Aus den Backlogitems wurden so Epics, die innerhalb einer Iteration umgesetzt werden können. Alle Backlogitems, die sich in den drei Monaten einer Iteration nicht umsetzen lassen, werden als Initiativen definiert, die wieder in Epics heruntergebrochen werden. Neben diesen regulären Epics garantiert eine Fastlane, dass zeitkritische Items mit hoher Wichtigkeit (z.B. eine kurzfristige Angebots-Erstellung) sofort umgesetzt werden.

Soweit also der Prozess. Aber in welcher Konstellation sollen diese Epics nun abgearbeitet werden? Und so kommen wir zum Teambuilding, dem nächsten zentralen Block unseres Summits. Agile Teams sollen fokussiert, selbstorganisierend und lean sein, lernen wir. D. h. konkret, ein Mitarbeiter soll in so wenigen Epic Teams wie möglich arbeiten, die Umsetzung des Epics inkl. Wahl der Methode liegt allein beim Team und die Struktur eines Teams soll flach sein. Die Teams werden auf Grund von grundlegenden Kontextinteressen gebildet. Epics, die mit diesem Kontext zusammenhängen, sollen über mehrere Iterationen hinweg von einem Team bearbeitet werden. Das soll den Teams ermöglichen, mehr über den gegebenen Kontext zu lernen und in den verschiedenen Iterationen schneller und besser zu werden. Um die effiziente Anwendung von agilen Methoden und Rollen in den Teams sicherzustellen, coachen unsere Agile Agents die neu zu gründenden Teams.

Soweit die Theorie. Folgt die praktische Umsetzung. In drei Schritten finden sich Epics und ihre Bearbeiter. Zunächst werden die priorisierten Epics nacheinander kurz vorgestellt. Danach kann sich jeder Mitarbeiter ein Epic „greifen“. Anschliessend werden inhaltliche Kontexte zwischen den Epics identifiziert und so übergeordnete Epic Teams gebildet. Bei unserem Summit haben sich so am Ende des Tages neun Epic Teams gefunden, die die priorisierten Epics gemeinsam innerhalb der nächsten zwölf Wochen abarbeiten wollen. Dabei fungiert in jedem Team ein Mitglied als Product Owner, der die ergebnisorientierte Delivery sicherstellt und eines als Agile Leader, der die Rolle des Servant Leaders des Teams einnimmt.

Schöne neue, agile Welt?

Seit nun drei Monaten arbeiten wir in den Epic Teams an unseren Prioritäten. Nach dem ersten Summit wurden einige Teams noch einmal angepasst, etwa weil die Kontext-Zusammengehörigkeit beim ersten Team Meeting auf einmal doch nicht mehr so augenscheinlich war, wie noch im Summit. Es wurde sehr viel innerhalb der Epic Teams, mit den Agile Agents und im gesamten Team diskutiert. Die für uns neue, zusätzliche Definition von „Team“ – nicht als organisatorische Zugehörigkeit mit klaren Hierarchien, sondern als Epic-dienendes Gebilde mit flachen Hierarchien – bereitete uns zu Beginn durchaus Probleme. Und sie tut es hier und da auch heute noch. Führungskräfte sind hier auf einmal nicht mehr unbedingt in der Leader-Rolle, sondern nehmen auch mal „nur“ die Rolle des Teammitglieds ein. Völlig neue Konstellationen aus Kollegen der unterschiedlichen Disziplinen arbeiten zusammen. Und daneben geht das Business-as-usual ja weiter. Schaffen wir es, das aTOM auch im Organisationsalltag mit Leben zu füllen und uns zur konsequenten agilen Vorgehensweise zu disziplinieren? Oder werden innerhalb der Iteration dann doch neue Aufgabenpakete vergeben, die vorher nicht als Epic priorisiert wurden? Ist es richtig, die Epics im Management zu priorisieren, oder wäre es nicht konsequenter, das im Team mit den Mitarbeitern zu machen? Sind Kontextteams der richtige Weg in unserer relativ kleinen Organisation, in der sowieso Transparenz über die vorhandenen Expertisen herrscht? Klappt der Mindset Change? Wie wirkt sich das neue Modell auf die Verzielung aus? Ist MS Teams dauerhaft wirklich das passende Tool, um unseren Backlog zu managen? Das sind einige der Fragen, die uns momentan beschäftigen und zu denen wir uns kontinuierlich in verschiedensten Formaten, sei es in der Agile Agents Sprechstunde oder während der 1:1 Feedback-Gespräche von mir mit einzelnen Mitarbeitern, austauschen. 

Das Feiern muss warten

Im ersten Teil unseres zweiten Summits Ende April haben wir zurückgeblickt, inwiefern wir die Epics aus der ersten Iteration erfolgreich abschliessen konnten. In Teil zwei Anfang Mai werden wir für die nächste Iteration neue Epics priorisieren und verteilen. Dies werden wir mit einer grossen Portion an neuen Erfahrungen tun, die wir einfliessen lassen. Um in der neuen Iteration weiter Erfahrungen zu sammeln. Wir werden Dinge anders, hoffentlich besser, machen. Aber wir werden weiter Diskussions- und Anpassungsbedarf haben. Und darauf freue ich mich, denn nur so können wir uns und unser aTOM kontinuierlich weiterentwickeln. Noch mehr hätte ich mich gefreut, wenn wir unsere ursprüngliche Planung des zweiten Summits hätten realisieren können. Wir wollten das, was wir bisher zusammen vorangebracht haben, feiern und das Summit als Offsite in einer schönen Location stattfinden lassen, gekrönt von einem gemeinsamen Abendessen und einem Ausklang. Denn das gemeinsam Erreichte in einem Change zu feiern, das ist wichtig! In der gegenwärtigen Situation, in der wir von COVID-19 bestimmt werden, ist das natürlich nicht möglich und wir müssen unser Summit virtuell und zweigeteilt durchführen. Aber – aufgeschoben ist auch in diesem Fall nicht aufgehoben. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, wie es weiter geht und freue mich, wenn Sie so mit uns auf die Reise gehen!

Der Originalartikel erschien am 08. Mai 2020 auf Linkedin.

Diese Seite teilen