Ökosysteme - Wozu?
Von Ralf Helbig
Ökosysteme scheinen in aller Munde. Aus der Welt der Veröffentlichungen gewinnt man fast den Eindruck, dass Unternehmen nur als Teil eines Ökosystems erfolgreich sein können. Ist dem so? Warum scheinen sie in heutiger Zeit so opportun? Was hat sich verändert?
Gegenüber früher verstärkt sich die Dynamik der Veränderungen. Die globale Vernetzung der Wirtschaft reagiert sensibel auf jegliche Ereignisse. Dies gepaart mit ständig neu entstehenden Marktanforderungen – oft ausgelöst durch neue Potenziale technologischer Innovationen – beschleunigt die geschäftlichen Entwicklungen und stellt Unternehmen vor ungeheure Herausforderungen. Selbst globale Giganten, die zuvor unangreifbar und stabil schienen, können schnell von neuen Spielern auf dem Markt überholt oder von Katastrophen gebeutelt werden.
Ökosysteme können sich in diesem Umfeld rasch, variabel und flexibel an sich verändernde Verhältnisse und Anforderungen anpassen. Wie ein modularer Baukasten können sich Akteure zur Erbringung klar definierter Leistungen zu einer Wertschöpfungskette bedarfsorientiert zusammenfügen. Dieses schnelle An- und Abkoppeln über klar definierte Mechanismen ermöglicht es, jegliche Bedürfnisse am Markt zu bedienen. Die Beteiligung setzt bei den Akteuren eine klare Fokussierung voraus und die Bereitschaft, sich den Kopplungs- und Kooperationsregeln einer verbindenden Plattform zu unterwerfen.
Hierin liegt auch ein Problem für viele Unternehmen: Kontroll- und damit Machtverlust. Denn teilnehmende Unternehmen verzichten darauf, die Spielregeln zu bestimmen und geben wichtige Elemente eines Geschäftsmodells aus der Hand. Sie verlassen sich darauf, dass die Kundenbeziehung von Kontaktanbahnung bis Rechnungstellung von der Plattform gestaltet wird und sie nur ein kleines Puzzleteil in diesem Spiel darstellen. Daher ist es eminent wichtig, jeden Teilnehmer des Ökosystems für die zu erbringende Leistung gerecht zu entlohnen. Denn sobald nur schon bei einem Akteur der subjektive Eindruck entsteht, dass in der Leistungskette ungerecht entlohnt wird, ist das gesamte Konstrukt in Gefahr.
Daher benötigt es zwingend eine neutrale, vertrauenswürdige Instanz, einen Initiator, der eine Plattform bietet, Regeln für das System festlegt, die Interessen der Ökosystempartner wahrt sowie die Kommunikation zwischen Anbieter und Kunden ermöglicht. Ohne den Initiator geht es genauso wenig, wie ohne die Komplementoren, weshalb man auch von einer abhängigen wechselseitigen Kooperation spricht. In einem funktionierenden Ökosystem wird also für alle Beteiligten – Initiator, Komplementoren und Kunden – ein Wert erzeugt. Konkurrenten bleiben zwar Konkurrenten, verhelfen sich aber durch die Erschliessung neuer Geschäftsmodelle, orchestriert durch den Initiator, zum Erfolg.
Ein Ökosystem hat immer den Zweck, Kundenbedürfnisse besser bedienen zu können. Dabei gibt es unterschiedliche Arten, die sich an den Nutzern ableiten lassen. Ein gutes Beispiel ist die populäre Plattform Airbnb, ein digitales Ökosystem der ersten Stunde. Hier steht das erleichterte Bedienen des Kundenbedürfnisses – die Übernachtungsmöglichkeit in der Fremde – im Vordergrund. Der Reisende könnte einfach ein Hotel buchen und dies auch auf einer Plattform wie Booking.com, die auch ein digitales Ökosystem ist. Das Innovative an Airbnb ist aber, dass es einer Anbietergruppe, nämlich Privatpersonen, eine Plattform bietet, die sonst im Wettbewerb um Übernachtungsgäste nicht in Erscheinung getreten wäre. Ähnliches gilt für Handwerker-Plattformen, auf denen Kleinst- und Kleinbetriebe ihre Dienstleistungen an den Kunden bringen. Allein könnten sie niemals diese Reichweite an potenziellen Kunden erreichen.
Ein weiteres Beispiel ist die Befriedigung der Bedürfnisse eines Patienten. Hier ermöglicht es ein plattformbasiertes Ökosystem aus z. B. Ärzten, Laboren, Medtech-Anbietern, Pharmaunternehmen, Apotheken und Versicherungen, eine ganzheitliche Patienten-Journey zu zeichnen und den Patienten mit all seinen Bedürfnissen, Daten und seiner Historie zu bedienen. Das ist nicht nur für ihn ein Vorteil, da er durch das Ökosystem zum Mittelpunkt des Angebots wird und seine Daten nicht bei jeder Station neu vorlegen muss, sondern auch für die Anbieter. Denn hier wächst die Marktbeteiligung. Oftmals ermöglicht das Ökosystem durch Einfachheit und Harmonisierung sogar erst das Schaffen einer attraktiven User Experience, gerade bei einem stark spezialisierten Anbietermarkt. Voraussetzung dafür ist Interoperabilität, also die modulare Zusammensetzbarkeit. Erfolgskritisch ist jedoch immer das Vertrauen zwischen der neutralen Instanz des Plattform-Betreibers und den anderen Akteuren.
Bei all den positiven Effekten stellt sich die Frage, wieso es nicht mehr funktionierende Ökosysteme gibt. Die Initiierung und der Aufbau eines funktionierenden Ökosystems ist für den Betreiber mit hohem Aufwand verbunden. Von den Anbietern wird absolute Offenheit benötigt. Denn die Hemmnis, mit Konkurrenten zusammenzuspannen, ist, auch mit Aussicht auf einen Mehrwert, gross. Der Initiator muss hier durch klare Rahmenbedingungen die Interessen aller Beteiligten wahren und so Vertrauen bilden. Dies erfordert beim Aufbau und Betrieb des Systems hohe Investitionen. Und der Return ist erst gegeben, wenn eine kritische Masse an Komplementoren und Konsumenten erreicht wurde. Sowohl die Akquise und Orchestrierung der passenden Akteure, um eine gesamte Wertschöpfungskette abzudecken oder eine kritische Angebotsmenge zu bilden, als auch die Akquise der Kunden stellen also eine grosse Herausforderung beim Aufbau eines Ökosystems dar.
Grosse, globale Spieler haben die Möglichkeit, eigene Ökosysteme aufzubauen. Doch entstehen durch deren Dominanz sowohl für Teilnehmer wie für Kunden hohe Abhängigkeiten. Daher ist wichtig, dass auch mittelständische und kleinere Unternehmen die Kraft von Ökosystemen erkennen und Eigeninteressen hintenanstellen. Denn am Ende stellen sich alle Beteiligten besser und gewinnen – sogar gegen die Giganten!
Dieser Artikel erschien im Original im C-Level Magazin NR. 3 | 2020